Ultra-Processed People
Du gehst manchmal Einkaufen und fragst dich, was genau da eigentlich gerade in deinem Einkaufswagen und später auf deinem Teller landet? In seinem Buch Ultra-Processed People – Why We Can’t Stop Eating Food That Isn’t Food findet der Autor Chris van Tulleken genau das für dich heraus.
Wer ist der Autor?
Chris van Tulleken (*1978) ist praktizierender Arzt am Hospital für Tropical Diseases und Professor am University College in London. Darüber hinaus ist der Brite bekannt durch diverse TV- und Radioproduktionen der BBC – durch die er zwei Auszeichungen (BAFTA) gewann. Van Tulleken fokussiert sich bei seiner wissenschaftlichen Arbeit vor allem auf die menschliche Gesundheit und untersucht Interessenskonflikte in bestehenden Studien.
Wie ist das Buch aufgebaut?
Van Tulleken bezieht sich in seinem Buch Ultra-Processed People abwechselnd auf Gespräche mit diversen Expert:innen und Studien(-ergebnissen), die er vergleicht, hinterfragt und teilweise durch neu gewonnene Erkenntnisse widerlegt. Er nennt immer wieder Beispiele aus dem Alltag, um die Gegenwärtigkeit seiner Aussagen und die realen Auswirkungen darzustellen.
Zentral ist auch die Sprache, durch die der Autor die Leser:innen direkt anspricht und sich selbst mit einbezieht. Das von ihm durchgeführte Selbstexperiment, das er gleich zu Beginn einleitet, liefert nicht nur grundsätzlich neue Forschungsergebnisse: sie sind aus erster Hand erfahren und erzählt und dadurch greifbarer für das Publikum.
Was sind Ultra-Processed People?
Der Titel leitet sich vom Begriff des Ultra-Processed Food ab und bezieht sich auf die dadurch fortlaufende Veränderung der Gesellschaft und die Entwicklung eines parallelen Ökosystems bzw. einer neuen Esskultur – gesteuert durch die Wirtschaft, statt dem Lauf der natürlichen Energiezufuhr.
Ultra-Processed Food – im Folgenden abgekürzt mit UPF – ist die englische Bezeichnung für hochverarbeitete Lebensmittel, die durch ihren Herstellungs- bzw. Verarbeitungsprozess in industrieller Form erzeugt bzw. modifiziert werden. Um das Thema verständlicher darzustellen, sind unten ein paar bekannte Zusatzstoffe aufgeführt. Diese Zusatzstoffe dienen beispielsweise der Konsistenz, des Geschmacks oder der Haltbarkeit der industriell hergestellten Lebensmittel.
Interessant ist an der Stelle, dass einige Bezeichnungen oft auf den ersten Blick etwas Positives suggerieren (siehe rechte Spalte), obwohl sie genau so hochverarbeitet und ungesund sind, wie die anderen Stoffe. Darüber hinaus werden Zusatzstoffe oft durch die sogenannten E-Nummern unter den Inhaltsstoffen eines Produkts aufgelistet und sind dadurch für die meisten Endverbraucher zunächst nur schwer nachvollziehbar oder unverständlich.
Zusatzstoffe: negative Assoziation | Zusatzstoffe: positive Assoziation |
Emulgatoren, Stabilisatoren (Bsp.: E322 Lecithin) |
Fruchtkonzentrat |
Konservierungsstoffe (Bsp.: E242 Dimethyldicarbonat) |
natürliche Aromen |
Wie hat sich der Markt entwickelt?
Generell ist ein enormer Zuwachs an UPFs und Zusatzstoffen über die letzten 150 Jahre zu verzeichnen. Angefangen mit der (zufälligen) Entdeckung von Saccharin im Jahr 1878 durch den Chemiker Fahlberg – die van Tulleken spannend beschreibt – und der intensiven Forschung rund um die Herstellung und Verarbeitung modifizierter Stärke (1885), bis hin zu dem heutigen jährlichen Konsum von 8kg Zusatzstoffen pro Kopf (in Großbritannien). Im Vergleich dazu ist die Zahl von durchschnittlich 2kg Mehl pro Kopf erschreckend.
Die Entdeckung von Saccharin (1878)
Ursprünglich wollte Fahlberg medizinische Bestandteile aus Kohlenteer produzieren – Kohlenteer ist ein giftiges Nebenprodukt der Kohleverarbeitung und heute noch oft in Kosmetika wie Shampoos und Seifen enthalten. Das Ergebnis war jedoch ein Süßungsmittel (Saccharin), das 300 mal süßer ist als Zucker.
Wie kommt es zu dieser Veränderung im Konsum von UPFs?
Van Tulleken benennt diverse Gründe, die zu dem immensen fortlaufenden Anstieg des Konsums von UPFs führen. Im Folgenden sind 2 entscheidende Faktoren aufgeführt.
Der Zusammenhang von Armut und dem Konsum von UPFs
Food environments determine what we eat far more than conscious choice.
Van Tulleken bezieht sich in seinem Buch überwiegend auf Beobachtungen im Raum Großbritanniens. Im Zusammenhang mit der dort herrschenden Armut in einigen Teilen Englands fällt auf, dass sich in ärmeren Vierteln fast doppelt so viele Fast Food-Restaurants befinden, als in den restlichen Teilen des Landes. Zwischen denen als sogenannte food swamps bezeichneten Ansammlungen der Fast Food-Filialen ist frisches Essen zwar grundsätzlich vorhanden, geht allerdings in dem "Sumpf" unter.
UPFs sind (in Großbritannien) günstiger als frisches Essen, schnell zubereitet bzw. gekauft und – ebenfalls ein ausschlaggebender Punkt – gerne von Kindern gegessen.
Kinder sind gezielte und leichte Opfer einiger Marketing Konzepte, die bewusst den Konsum von UPFs anregen sollen. Als Beispiel nennt van Tulleken die Konzepte der britischen Stadt Leicester. Dort dient beispielsweise das Busticket der Jugendlichen gleichzeitig als McDonald's Gutschein und Social Media Kanäle sind überschwemmt mit der Werbung der ansässigen Fast Food-Ketten. Gleichzeitig dienen die Filialen als Aufenthaltsort der Jugendlichen, da es keine durch die Stadt zur Verfügung stehenden Jugendclubs o.ä. gibt.
Außerdem berichtet van Tulleken von einer Studie, in der getestet wurde, welchen Einfluss TV-Werbung auf den Konsum von Kindern hat. Zwei Gruppen von Grundschulkindern sahen sich denselben Cartoon an und erhielten die gleiche Menge an Snacks. Bei einer Gruppe war Werbung für Essen zwischengeschaltet, bei der anderen ging es um andere Produkte. Als Ergebnis hat sich herausgestellt, dass die Gruppe mit der Werbung für Essen 45% mehr Snacks konsumiert hat, als die andere.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Einfluss von Stress – oft auch ausgelöst durch Armut und die damit verbundene Ungewissheit in Bezug auf die eigene Zukunft oder die der Familie. Das Stresshormon Cortisol regt den Appetit an und sorgt damit für erhöhten Nahrungsmittelkonsum. Mehr zum Zusammenhang von Hormonen und Nahrungsmittelkonsum in den nächsten Abschnitten.
UPFs machen süchtig
[...] if food is delicious enough, it simply overrides the system that’s desperately trying to tell us we’re full.
Der Hypothalamus im Gehirn reguliert unter anderem die Nahrungszufuhr. Um die Wichtigkeit hervorzuheben und den wissenschaftlichen Hintergrund einfach verständlich darzustellen, bezieht sich van Tulleken auf ein Experiment von Hervey, in dem Ratten mit einem beschädigten Hypothalamus Kontrollverlust beim Essen erlitten und daraus oft Fettleibigkeit resultierte. Der Hypothalamus dient außerdem als Schnittstelle zwischen dem Hormon- und dem Nervensystem und übernimmt damit eine zentrale Funktion in der Langzeitkontrolle der Nahrungszufuhr. Abstrahiert bedeutet das, dass hier über das WAS, WANN und WIE VIEL (Nahrung) entschieden wird.
Zucker und Salz sind die zwei Inhaltsstoffe in UPFs, die den Appetit am meisten anregen. Vor allem aber eine bestimmte Kombination aus Salz, Fett, Zucker und Protein steigert das Verlangen nach dem Produkt. Das Belohnungssystem im Gehirn reagiert dann auf eine Art, wie sie sonst durch Drogen (Alkohol, Nikotin, Morphium, etc.) hervorgerufen wird.
Mehr zu den Auswirkungen auf das Gehirn und den Körper im Allgemeinen zeigen die Ergebnisse des Selbstexperiments von van Tulleken.
Van Tullekens Selbstexperiment
As I ate, there was a tussle in my brain. I still wanted this food that [...] wasn’t really food, but at the same time I was no longer enjoying it.
Um die Auswirkungen von UPF selbst besser nachvollziehen und Experten:innenmeinungen untersuchen und bestätigen zu können, hat sich der Autor selbst einer UPF-Diät unterzogen. Konkret sah der Ablauf folgendermaßen aus:
4 Wochen | 4 Wochen | ||
Verzicht auf UPFs | Durchführung von Messungen (Körpergewicht, Gehirn, etc.) |
80% Kalorienzufuhr durch Verzehr von UPFs | Durchführung von Messungen (Körpergewicht, Gehirn, etc.) |
Wichtig zu erwähnen ist, dass das gewohnte Essverhalten während des Experiments quasi weiter beibehalten wurde. Van Tulleken kam seinem Hungergefühl oder Appetit nach und griff zu dem Essen, das in dem Moment zur Verfügung stand (unter Beachtung der 80% Kalorienzufuhr).
Das sind die nennenswertesten Ergebnisse und gesundheitlichen Folgen des Experiments zusammengefasst:
Physische Auswirkungen: Hormone | Physische Auswirkungen: Gehirn |
Verwirrung der Appetit-Hormone 1. vermindertes Völlegefühl (auch bei großen Mahlzeiten) 2. schnell wiederkehrendes, starkes Hungergefühl (bereits kurz nach dem Essen) |
MRT: Zunahme der Kommunikation zwischen einigen Arealen im Gehirn (Hormone, Verlangen, Belohnung) auf Dauer: permanente Veränderung der Struktur |
Physische Auswirkungen: Allgemein | Psychische Auswirkungen |
Gewichtszunahme: 6k in 4 Wochen | Alpträume: häufig Verlustängste |
Verstopfung: UPF enthält wenig Ballaststoffe und Wasser | |
Nächtliche Wachphasen: mehr Salz = mehr Durst (Wasser) = mehr Harndrang |
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Wie lauten van Tullekens Handlungsempfehlungen?
There is an ethical question about encouraging you to do this, but I’m comfortable with it.
Van Tulleken legt den Leser:innen ans Herz, einmal selbst die UPF Diät auszuprobieren. Im besten Fall für die Dauer, die man braucht, um das Buch zu lesen. Grund dafür ist, dass man sich während des Experiments wie gewohnt weiter ernährt und sich damit – im besten Fall – der Effekt einstellt, dass das Bewusstsein für die negativen Auswirkungen des UPF Konsums gestärkt wird.
Welche Erfahrungen habe ich gemacht?
Am stärksten beeinflusst hat mich der Bericht über die Entdeckung von Saccharin. Dass dieser Süßstoff als zufälliges Ergebnis der Forschung an einem giftigen Produkt wie Kohlenteer entdeckt wurde, hat in mir extremes Unbehagen ausgelöst. Der Gedanke daran, dass dieser Inhaltsstoff in vielen Produkten enthalten ist, die ich (fast) täglich konsumiere, löst in mir ein Gefühl von Ekel aus und den Drang, alle entsprechenden Produkte von meinem Ernährungsplan zu streichen.
Saccharin ist natürlich nur ein ganz kleiner Teil von einer sehr langen Liste an ungesunden Zusatzstoffen und UPFs. Ich habe leider gemerkt, dass ich im Alltag nicht die Zeit habe oder finde, auf einige UPFs zu verzichten. Allein die "Omnipräsenz" der UPFs, die teilweise versteckten Inhaltsstoffe oder intransparenten Herstellungs- und Verarbeitungsprozesse machen eine starke Reduzierung für mich nicht möglich. Allerdings bin ich mir meiner Verantwortung als Gestalterin bewusster geworden und überlege beispielsweise zweimal, ob ich zukünftig wirklich für bestimmte Unternehmen in der Lebensmittelindustrie arbeiten sollte.
Fazit
Chris van Tulleken macht ein wichtiges und teilweise unterschätztes Thema für jede:n zugänglich. Die wissenschaftlichen Hintergründe sind so erklärt und oft durch Beispiele ergänzt, dass sie einfacher verständlich sind. Außerdem bezieht er sich und (seine) Erfahrungen aus dem Alltag stark mit ein, sodass das Thema UPF und seine Auswirkungen greifbar werden. Eine absolute Leseempfehlung!